Dienstag, Zehnuhrpause. Seit die Zweitklässler sich in den neusten Nahkampftechniken üben, patrouillieren wir ab sofort wieder zu zweit. Eine Lehrperson konfrontiert, die andere stellt die Rückendeckung aus Distanz sicher. Wenn sie denn rechtzeitig da ist. Ich schnappe mir den Pausenapfel und entsichere meinen Regenschirm. Stählerner Blick, strammer Gang, blitzschnelle Reaktion. Heute entgeht mir nichts und niemand.
Aus der Mädchentoilette wabern blumige Duftwolken. Ich nähere mich lautlos und öffne die Tür mit einem Ruck. Drei empörte Schülerinnen starren mich an. Der Gang auf die Toilette, belehrt mich Jenny, ist ein Menschenrecht. Und selbstverständlich ist der Vaper in ihrer Hand kein Beweis dafür, dass er auch benutzt wurde.
James Bond hätte jetzt einen Martini bestellt, wir haben Pausenäpfel. Aber statt zu warten, bis sich Jenny & Friends im Zeitlupentempo aus der Toilette bewegen, gilt es jetzt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ich beisse in den Apfel.
Als ich in Sichtweite des Kollegen bin, der heute mit mir Aufsicht hätte, holt der eilig eine Flasche Prosecco aus dem Pult. „Es ist wichtig, dass wir Suchtmittel in Form von Elterngeschenken umgehend aus der Reichweite der Schüler/-innen entfernen“, raunt er mir zu und entschwindet Richtung Parkplatz.
Mit tief empfundener Dankbarkeit für die wertvolle Lektion in Sachen Suchtmittel verlasse auch ich das Schulhaus. Erlöse den Pausenplatz vom Bösen. Ein blau angelaufener Schüler versichert mir gewissermassen mit dem letzten Atemzug, dass er freiwillig im Schwitzkasten seines älteren Kollegen steckt. Ich nicke würdevoll in seine Richtung und bewege mich Richtung Fahrradständer.
Von dort sind ohrenbetäubende Schreie zu hören. Die Drittklässler haben sich im Kreis aufgestellt und feuern zwei sich prügelnde Erstklässler an. Ich blicke mich um. Mein Kollege, der so professionell mit Elterngeschenken umgeht, bewundert gerade das Baby einer Passantin, die sich mit dem Kinderwagen auf dem Parkplatz verirrt hat. Der Wonneproppen starrt interessiert in unsere Richtung.
Der Lärm schwillt an. Ich eile. James Bond hatte eine Walther-Pistole, ich stehe mit einem Regenschirm in der Rechten und einem zerkauten Apfel in der Linken vor den johlenden Schüler/-innen.
Damit wir uns richtig verstehen – vor mir stehen Jugendliche, die bereits im Kindergarten mit der Friedenstreppe spielerisch Konflikte lösten. Die sich in der Primarschule zu Peace-Makern ausbilden liessen. Die umgeben sind von Erwachsenen mit lupenreinen Sonderstrafregisterauszügen, die vermutlich auch in ihren schlimmsten Alpträumen gewaltfrei kommunizieren.
Der Kollege Rückendeckung ruft mir zu. Er deutet mit einer Hand auf mich, winkt mich Richtung Teamzimmer. Dort klirren die Gläser. Ach ja, Abwart Jauch hat heute Geburtstag. Auf dem Tisch sind eine vergessene Weinflasche und ein konfisziertes Säckchen Snus. Unter den erstaunten Blicken der Anwesenden entkorke ich die Flasche mit zimmerwarmem Weissen und nehme einen grossen Schluck. Während der Laudatio des Schulleiters werfe ich das Päckchen Snus ein.
Ich verlasse das Teamzimmer mit dem alptraumhaften Gefühl, im Gegensatz zu meinem Kollegen mit dem Prosecco im Auto weder vom Umgang mit Gewalt noch von Autorität etwas verstanden zu haben.
Draussen zwitschern die Vögel. Einige Schüler/-innen grüssen, andere winken mir fröhlich zu. Auf dem Sportplatz wird Fussball gespielt. In leichtem Zickzack überquere ich den Pausenplatz wie auf Wolken.
Die Erkenntnis, frei nach Erich Kästner, durchzuckt mich vor den duftenden Mädchen-Toiletten.
„So haben wir mit dem Kopf und dem Mund / Den Fortschritt der Schulen geschaffen / Doch davon mal abgesehen und bei Lichte betrachtet / Sind wir immer noch die alten Affen.“
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