Nun ist sie wieder da, die intensivste Zeit der Lehrertätigkeit, die Berufswahlkun­de. Meine hehre Aufgabe ist es, 17 Sek­ B ­Schüler/innen eine achtenswerte Arbeit zu vermitteln, mit der sie sich und ihre eventuellen Nachfahren durchs Leben bringen (und ihnen stets das neuste Smartphone  kaufen) können.

Grad nach den Sommerferien begannen wir mit dem Ausfüllen des Berufswahl­tagebuchs: Elise wollte Pilotin werden, aber ihre Eltern tendierten eher Richtung Heirat und Haushalt. Khaled träumt schon lange davon, einfach mal reich zu sein. Während die Grossbanken ihre Büroarbeitsplätze in den Osten ver­lagern, sucht er fieberhaft nach einer KV ­Lehrstelle auf der Bank. Er hat zwar früh begonnen, aber die Banken waren noch etwas früher. Wenn es so weiter­ geht, halten sie sich bald wieder an den Stichtag «1. November», dummerweise einfach ein Jahr zu früh. Laura hat wahn­sinnig gern Tiere und dachte darum über Tierärztin nach. Als ich ihr erklärt habe, dass man dazu ins Gymi muss, schwenk­te sie auf Tiermedizinische Praxisassis­tentin um. In der Zwischenzeit hat sie ihre Ziele auf Detailhandelsangestellte im Zoofachhandel runtergeschraubt. Manchmal scheint es mir, dass die Jugendlichen fast realistischer sind als ihre Eltern. Während Dragic schon lange wusste, dass er höchstens noch bei der zweiten Mannschaft des FC Schwamen­dingen unter Vertrag genommen wird, suchten seine Eltern noch fieberhaft nach einem Beruf, der sich mit einer Fuss­ballerkarriere verbinden lässt.

Einen ersten Realitätscheck hatte meine Klasse beim Besuch der Berufsmesse. Wie Schafe auf dem Weg zur Schlacht­bank – überwältigt von der Informationsflut – waren sie durch die vielen Stände getrottet, während ich mich im Café mit den anderen Lehrpersonen für das nächste Halbjahr stärkte. Die Rückmel­dungen auf dem Heimweg schwankten zwischen «Sie, diä händ ois gseit, dass mer als Automobilassistent die ganzi Ziit mues staa» und «Ich han de Wettbewerb gunne, defür han ich leider ihres Inter­view nöd chöne mache». Für viele wirkte die Zukunft auf einmal nicht mehr so rosig. Da brachte ein Gespräch über die besten Werbeartikel von den ver­schiedenen Ständen immerhin etwas Linderung.

Während die ersten Schüler in Panik ver­fielen und ihre Eltern sie schon jetzt vor­ sorglich fürs 10. Schuljahr anmelden wollten, wagten wir uns an die Königsetappe der Berufswahl: das Motivations­schreiben.

Ich weiss genau, dass die Mehrheit mei­ner Klasse alleine nie so ein Ding auf die Reihe kriegt. Deshalb strich ich mal vor­ sorglich alles Unnötige aus dem Stunden­plan; die Bewerbungsbriefe wollen schliesslich pünktlich zur ersten Schnup­perlehre bereit sein. Anders kriegt man keinen Platz an der Sonne. Wir schrieben und feilten, damit aus einer tiefen Leiden­schaft für Computerspiele und dem Abhängen mit Freunden am Kiosk ein gutes Argument für eine Lehrstelle wer­ den könnte. Aber auch nach der dritten Korrektur blieben noch einige Stilblüten. Wenn Raúl schreibt, dass er sich sehr für moderne und effiziente Gastronomie interessiert, dann kann man erahnen, dass sein Lieblingsessen ein Double Cheeseburger ist. Auch bei Lorettas Beschreibung ihrer Affinität zu Zahlen sind einige Zweifel angebracht, wenn man weiss, dass sie in der Mathe im Niveau III ist. Ganz nebenbei versuchten wir uns in der Kunst des Tabulatorsetzens und ersetzten die Fotos mit Schmoll­mund, Bikini oder würgenden Krawatten durch passende Porträts.

Noch dauert es eine Weile bis die end­ gültigen Bewerbungen tatsächlich abgeschickt werden, aber ich weiss jetzt schon, dass ich mich hüten werde, ihnen die Chancen auf eine Lehrstelle zu ver­bauen. Ich werde bei Referenzauskünf­ten auch mal etwas von der Wahrheit abweichen; alternative Fakten sind ja im Moment eh im Trend.

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