Es gibt Tage, da merkt man schon beim Betreten des Lehrerzimmers, dass irgend etwas anders ist als sonst. Am auffälligsten ist dies am Besuchstag. Man spürt, dass die Luft vibriert und trotzdem geben sich alle so betont gelassen und abgebrüht. Noch öfter als bei Besuchen der Schulbehörde betonen Hinz und Kunz, dass sie für die Eltern sicher nichts Spezielles vorbereitet hätten. Alle machen so Schule «wie immer» und trotzdem hat jeder seine ganz eigenen Vorkehrungen getroffen, um den Tag zu überleben. Patrizia sagt eine Prüfung an, die sich keinesfalls verschieben lässt. Als Gegengeschäft bietet sie den Eltern jeweils an, zu jedem anderen Termin vorbeizukommen. Nur traut sich dann niemand.

Döbeli erkauft sich seinen Frieden mit irgendwelchen geheimnisumwitterten Chemieversuchen. Die sehen so gefährlich aus, dass weder Eltern noch Schüler/ innen einen Mucks machen. Sonja verwendet an den Besuchsmorgen kein Deodorant, um kritische Fragen auf Distanz zu halten. – Zumindest behauptet das Steve Hilfiger und es wird durch das häufige Erzählen auch nicht mehr lustiger. Albert Jauch schleppt irgendwelche Werkzeuge und Gartengeräte über den Pausenplatz, damit man wenigstens einmal im Jahr denkt, er würde arbeiten. So hat jeder seinen Besuchstag-Groove.

Den gewohnten Gang nehmen die Dinge nur bei Anja Schulz. Böse Zungen behaupten, dass der Lärm in ihrem Schulzimmer sogar die Eltern fernhält. Für einmal verflüchtigt sich die Gemütlichkeit im Lehrerzimmer schon vor dem ersten Klingeln und auch ich mache mich auf den Weg. Als ich die Klasse begrüsse, sagt einer überlaut «You are early, Mister Schmalz». Natürlich der Hunziker! Kriegt im Englisch nie etwas auf die Reihe, ausser wenn es darum geht, seinen Lehrer vor den versammelten Eltern blosszustellen. Ich komme ja selten mehr als zwei, drei Minuten zu spät… Aber wer spaziert zehn Minuten nach dem Klingeln hinein? Die Mutter Hunziker! Wahrscheinlich will sie uns damit zeigen, wie beschäftigt sie mit ihrer Arbeit im Elternrat ist. Würde sich gescheiter mehr um das  Söhnchen  kümmern…

Der Ärger über Kevin ist schnell verflogen, denn am mühsamsten am ganzen Besuchstag sind nicht die Schüler/innen: Wer schwatzt weiter, wenn man um Ruhe bittet? Wer spielt auf dem Handy herum, statt meiner Geschichte aus dem Outback zu lauschen? Die Eltern! Ein Vater hat sogar mal auf meinem Pult herumgewühlt, als ich ihm netterweise meinen Bürostuhl als letzte Sitzgelegenheit überlassen habe.

Ich hangle mich durch meine Lektion und achte darauf, nach den letzten Sätzen nicht bei der Tür zu stehen. Mir graut davor, belagert zu werden. Gut gemeinte Komplimente, die nach dem Gegenteil klingen, oder arbeitsintensive «Fragen» kann ich mir auch anderswo holen. Letztes Jahr hat eine Mutter gefragt, ob ich eigentlich «British» oder «American English» vermitteln würde. Ihre Tochter habe zu Hause «kän’t» gesagt… – Also ehrlich, wenn das bei der Aussprache der Kids das letzte zu lösende Problem  wäre…

Als ich schon fast erleichtert aufatmen möchte, fragt mich ein Vater aus dem Hinterhalt nach «ein paar» Theorieblättern, um mit dem Sohn zu Hause Englisch zu üben. Als ob man eine Sprache auf zwei, drei Theorieblättern festhalten könnte! Das muss vor Ort im Kontakt mit Einheimischen aufgesaugt werden, so wie ich damals in Australien… Irgendwo unter einem Papierstapel finde ich ein Blatt, das ich mal von Patrizia kopiert habe. «Beginnen Sie mal mit dem, Herr ähm (wie hiess der schon wieder?), und melden Sie sich wieder, wenn Sie mehr brauchen…» Hat bis jetzt noch niemand gemacht. Der Lehreifer der Eltern schlummert schnell wieder ein, wenn sie dem geballten Elan ihrer eigenen Kinder gegenübersitzen. Erschöpft lasse ich mich auf einen Stuhl sinken und tröste mich damit, dass ich am Nachmittag Werken habe. Da kommt eh nie jemand

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