Sonja eröffnet uns zu Beginn des Weiterbildungsnachmittags, dass wir heute das grosse Privileg haben, ein Beurteilungskonzept zu verfassen.
Wahrscheinlich ist Sonja die einzige, die noch daran glaubt, dass wir an einem Nachmittag zu einer gemeinsamen Haltung finden. Zu allem Übel ist sie bei der Gruppeneinteilung noch glückloser als beim Zusammenstellen der ersten Klassen: Ich bilde mit Anja, Patrizia und unserem pensionierten Vollzeit-Vikar Döbeli eine Intervisionsgruppe. Jedes falsche Wort kann in dieser Gruppe einen Flächenbrand entfachen. Bernie, denke ich für mich, Schweigen ist Gold!
«Da ist doch alles sonnenklar. Meine Zeugnisnoten sind hieb- und stichfest. Die Eltern stellen sie nie infrage.» Für Patrizia bedeutet diskutieren, dass möglichst rasch alle ihre Meinung teilen.
«Mich würde aber schon interessieren, wie es euch gelingt, die Kompetenzerwartungen des Lehrplans 21 in spezifische Lernzielformulierungen zu giessen. Auch finde ich es sehr schwierig, bei summativen Lernkontrollen die Bloomsche Taxonomiestufe bei der Aufgabenformulierung zu berücksichtigen. Und wie kann ich dann am Schluss die vielen Smileys und Kreuzchen in eine Zeugnisnote umformulieren?», bringt sich Anja ein.
Ich halte mich da besser raus.
«Das ist doch total simpel: Du korrigierst und berechnest den Klassenschnitt. Wenn dieser nicht zwischen 4.2 und 4.5 liegt, hilfst du halt etwas nach. Am Ende berechnest du den Durchschnitt über alle Prüfungen und rundest. Was gibt es da überhaupt zu diskutieren?»
«An der PH habe ich gelernt, dass man dies nicht machen soll, weil…»
«Papperlapapp. Die sind eben völlig praxisfern. Und meine Schüler und Eltern wissen immer, woran sie sind, weil ich auf jede Prüfung den Klassenschnitt transparent notiere.»
Nur jetzt ja nichts sagen.
«An der PH habe ich aber gelernt, dass Selbstbeurteilung und differenzierte Kriterienraster…»
«Das tönt doch alles gut und schön, aber woher nehme ich die Zeit dafür? Ich weiss aus dem Gefühl, wie gut ein Schüler im entsprechenden Fach ist. Ein kurzer Blick auf die Darstellung im Rechnungsheft reicht meistens. Ist alles mit Fülli geschrieben? Sind die Resultate mit Massstab doppelt unterstrichen? Das gibt mir ein klares Bild fürs Zeugnis.»
«Das tönt doch alles gut und schön, aber woher nehme ich die Zeit dafür? Ich weiss aus dem Gefühl, wie gut ein Schüler im entsprechenden Fach ist. Ein kurzer Blick auf die Darstellung im Rechnungsheft reicht meistens. Ist alles mit Fülli geschrieben? Sind die Resultate mit Massstab doppelt unterstrichen? Das gibt mir ein klares Bild fürs Zeugnis.»
«Hattie hat in einer Studie belegt, dass Noten demotivieren und strukturierte Feedbacks für den Lernerfolg enorm förderlich sind.»
«Diese Kuschelpädagogik aus der Primarschule nützt ganz sicher keinem Schüler. Nach der Sek weht im Gymi und in der Berufsschule eh ein anderer Wind. Glaube mir, Anja, es ist nie früh genug, sich auf die Realität der Zukunft vorzubereiten. Das sehen auch die Eltern so.»
Auf Anjas Stirn erscheint eine senkrechte Falte.
Dabei ginge es doch noch viel einfacher. Ich setze jedem Mädchen im Englisch eine 6 und jedem Knaben eine 5. Beim Werken mache ich es dafür umgekehrt. So gleicht sich das aus. Die Zeit vor dem Zeugnis ist sonst schon so stressig und irgendwann muss ich ja auch noch meine Surf-Ausrüstung auf Vordermann bringen.
Um zu einem Ende in unserer Gruppenintervision zu kommen, muss ich meinen Vorsatz brechen und doch noch etwas sagen: «Was meint ihr dazu, wenn wir Sonja zurückmelden, dass wir uns intensiv mit dem Thema befasst hätten zum Schluss gekommen seien, dass uns allen eine faire Beurteilung äusserst wichtig ist. Deshalb muss jede Lehrperson fach- und stufenspezifische Kriterien berücksichtigen können. Zudem darf die Methodenfreiheit der Lehrperson nicht angetastet werden.»
Das hätte ich auch gleich am Anfang des Weiterbildungsnachmittags sagen können.
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