«Hören Sie auf, die Leistungen meiner Tochter in Zweifel zu ziehen. Wenn ich ein anderer Mensch sein könnte, dann wäre ich am allerliebsten Victoria.» Diese hitverdächtige Aussage reisst mich aus den Gedanken zurück in die Realität des Standortgesprächs. Victoria habe ich nur im Deutsch, deshalb interessiert mich die Sache lediglich am Rande.
«Ihre Gedanken sind aus systemischer Perspektive höchst interessant», meint der Schulpsychologe, um das betretene Schweigen zu überbrücken. Und wie immer, fühlt sich auch unser Heilpädagoge bemüssigt, dem etwas hinzuzufügen:
«Genau. Wie schon Freinet und Montessori sagten, ist …».
«Freinet? Hat sich nicht dessen Familie am Sklavenhandel bereichert? Ich glaube, da ist doch in Frankreich eine Statue vom Sockel geholt …».
«Seine Leistungen für die Pädagogik sind jedenfalls unbestritten.»
So klingt es, wenn Lucius Wackernagel, unser IF-Lehrer, den Schulpsychologen mit Wissen aus der pädagogischen Mottenkiste beeindrucken will: Das Gesprächsthema und die weiteren Anwesenden geraten zuweilen etwas in den Hintergrund. Befeuert wird das Ganze von Bernie, der mit seinen irrlichternden Zwischenbemerkungen Kurzvorträge über die Urahnen der Pädagogik zu verhindern sucht. Als Neo-Klassenlehrer ist er mit der Gesprächsleitung leicht überfordert, aber nicht heute. «Wie wir in den letzten dreiviertel Jahren gesehen haben, nimmt Victoria die Hilfe von Herrn Wackernagel kaum noch an. Sie ist auch mit den Hilfestellungen von mir in der Lage, ihre Lernziele zu …».
Wacki, der laut Vorbereitungssitzung schon zu Beginn des Gesprächs diese Themen hätte ansprechen sollen, will etwas gutmachen: «Genau, sie erreicht die Lernziele ohne meine Hilfe. Deshalb beantragen wir Victorias Entlassung aus dem IF per nächstes Schuljahr. Ja, wir müssen die Ressourcen bündeln und denen zugutekommen lassen, die sie wirklich nötig haben.» Genickschuss beim dritten Satz. Ich beobachte, wie Victorias Vater Notizen macht, um sie uns später um die Ohren zu hauen. Neben ihm schnappt jemand hörbar nach Luft. «Das werden wir uns nicht bieten lassen, mein Mann und ich haben schon bei der Ankündigung des Gesprächs beschlossen, dass Victoria diese Unterstützung weiterhin nötig hat. Für ihren Wunschberuf müssen Sie in den nächsten Monaten mehr in Victoria investieren. Wir haben ein Anrecht darauf, dass die Schule Victorias Potenzial endlich erkennt. Stattdessen versuchen die Lehrpersonen, sie herunterzuziehen. In der letzten Notenübersicht hatte sie im Englisch eine 2,5. Herr Schmalz, wie wollen Sie mit solchen Noten die Lernenden motivieren? Sie schreibt ihre Insta-Posts immer auf Englisch. Da erhält sie nur Komplimente, statt Bemerkungen zum eingeschränkten Wortschatz. Nein, da machen wir nicht mit.»
Die Eltern werden sich mit allen Mitteln gegen die Aufhebung wehren, weil sie den IF als eine Art Gratis-Nachhilfe sehen, die ihre Tochter in die Sek A bringen wird. Wackis unbedarfte Aussage hat uns voll in die Defensive gedrängt. Schlimmer kann es eigentlich nicht mehr kommen.
«Also, wenn meine bescheidene Meinung hier auch erbeten ist. Ich bin nur der Schulsozialarbeiter, aber durch mein gutes Networking bin ich halt doch immer voll am Puls und spüre, was bei den Jugendlichen gerade ongoing ist. Victoria war in den letzten Wochen wegen Regelverstössen häufig bei mir. Mit viel Hingabe ist es mir gelungen, Victorias Credibility wiederherzustellen. Aber wenn Sie mich fragen, ist Victoria at the end of the day einfach unterfordert. Wir dürfen die Alarmzeichen einer verwundbaren Jugendlichen nicht übersehen. Sie wird nicht dort abgeholt, wo sie steht. Eine Aufstufung in die Sek A könnte hingegen – und da reden wir jetzt von paradoxer Intervention – ein wirksames Mittel sein. That’s the point.»
Das hiesse dann: «In meine eigene Klasse». Höchste Zeit für meinen Auftritt.
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