Wenn ich ehrlich bin, Sitzungen sind nicht so mein Ding. Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich meine Schulleiterin, die Brunner, bezüglich der Begründung für meine stete 10-minütige Verspätung an Teamsitzungen fett angelogen. «Du weisst, wie es ist, Sonja. Ich arbeite am Dienstagnachmittag noch im anderen Schulhaus, weil du mir im Brunnacker kein volles Pensum geben kannst. Wenn ich die Werkstatt nicht feinsäuberlich putze um zwölf, dann kriege ich abends echt die Krise! Meine Frau hält mich so nicht aus! Yes Sonja, that’s how it is, ich kann erst an der Teamsitzung partizipieren, wenn all meine Schraubzwingen sortiert, die Hobelbänke justiert und die anstehenden Sägearbeiten mit Bleistift markiert sind.» Sonja schaute mich damals völlig verdattert an, da sie mich bis dato noch nie mit solch’ Inbrust für eine Sache hat einstehen sehen. In Wirklichkeit läuft das alles ganz anders ab. Ich sag’s dir jetzt, aber nur, weil du in deinem Alltag mal wirklich wieder etwas Pfeffer im Arsch brauchst, zumindest siehst du heute so aus.

Also: Um Punkt zwölf erscheint Albert Jauchs Lehrling Herbi. Ich gib’ ihm 20 Stutz, er mir ein Nicken. Dann er wisch wisch, bis die Werkstatt glänzt und ich zisch zisch, bis sich das Engelskraut in meiner Tüte zu wohltuender Entspannung in meinem Körper wandelt.

Nun bin ich bereit. Punkt 12:40 schwebe ich in die versammelte Runde. Während ich mit erweitertem Blick in den freien Stuhl sinke, wird mir bewusst, wie viele unserer Lehrpersonen ausser Balance geraten sind. Und jede und jeder pflegt seinen ganz eigenen Überlebenskampf: Brunner besucht seit neustem die Yoga-Stunde des 3. Sek-Wahlfachs und unser Schulsozialarbeiter Hilfiger trainiert probehalber im Fitnesscenter, um der immer gewaltbereiteren Jugend schlimmstenfalls mit Notwehr entgegenwirken zu können. Ich sag’s dir. Jede und jeder fährt seine ganz eigene Strategie auf, um sich in dieser herausfordernden Zeit über Wasser zu halten. Ich gönne mir einen Schluck Wasser, während ich die Powerpoint-Folie studiere, über deren Inhalt die Gemüter gerade hitzig debattieren: «Ist die Lektionentafel passend? Wo ausbauen? Wo reduzieren?»

Es vergehen keine zehn Sekunden, schon sind Anja Schulz und ich uns einig: Französisch auf der Sek B/C ist auszudünnen. Landessprache, jaja, aber der B/C-Schülerschaft wäre mehr gedient, sie würden ihre handwerklichen Fähigkeiten ausbauen und meine Werkstunden präsenter sein. Ich meine, dann üben sie noch schnell quizlet kurz vor der Pause für den anschliessenden – ohnehin katastrophal ausfallenden – Franztest und zag, ist das Tablet auch schon durchbohrt. Hirn aus – Bohrmaschine an. Und das ist nur ein Exampel. They are completely lost.

Annador Hunziker gesellt sich zu uns und ist als Elternvertreterin ganz besorgt: «Wird mein Sohn dann den Anforderungen der Berufswelt standhalten können, wenn die Lektionen reduziert werden?» Wir alle wissen, dass ihr «Büebli» nur schon in Sachen Pünktlichkeit ein grosses Defizit aufweist – parallel zu mir, weshalb ich die Aussage nicht kommentiere.

Und dann wird’s langsam kritisch… Partizia Partelli schäumt vor Empörung. Ihr feuerroter Rollkragenpullover der Marke Ralph Lauren untermalt ihre Gemütslage perfekt: «In der Sek A ringe ich so schon um jede Lektion! Ich meine all diese vielen Projekte! Und jetzt wollt ihr noch Lektionen streichen?!!!» Sie klingt verzweifelt. Wieder einmal fühlt sie sich in ihrer Leidenschaft, der tiefgründigen Sprachvermittlung, beschnitten. Sie merkt, dass ihr allmählich der Konjunktiv – wie schon damals der Subjonctif – unter den Füssen weggezogen wird. Schnaubend ringt sie nach Luft, offensichtlich zu spät. Bam! Fällt sie doch tatsächlich vom Stuhl. Ich springe auf und trabe so schnell ich kann vom hinteren Teil des Teamzimmers in den Vorderen und – nie hätte ich es gedacht – schmiege meine Lippen an die ihrigen. In gleichmässigen Abständen, highway to hell singend, massiere ich ihr Herz. Und siehe da. Sie blüht wieder auf.

Die Teilnehmenden der Sitzung verlassen alle etwas benommen den Raum und Partelli wird sich, so stellt sich später heraus, vom Schulsozialarbeiter fürs Fitnesscenter begeistern lassen. Wie gesagt: Jeder und jedem seine ganz eigene Strategie.  

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