«Die Schülerinnen und Schüler können  in Diskussionen oder bei Entscheidungen die eigene Haltung argumentativ einbringen», wiederhole ich leise vor mich hin, bevor ich den Lehrplan 21 zuklicke. Im letzten Mitarbeitergespräch hat Sonja mir vorgeworfen, dass mein Unterricht zu lehrerzentriert sei und dass ich meistens die Einzige sei, die zu Wort käme…

Ich hole tief Luft und blicke in die verträumten Gesichter der 2a.

«Bonjour les élèves. Aujourd’hui on va faire des discussions en famille. Mettez vous en groupes à quatre.»

Auf meine Anweisung hin geschieht nichts; die meistens studieren konzentriert die Holzmaserung ihrer Schulbänke, Elsa und Farida kichern in der linken hinteren Ecke und Felix rutscht auf seinem Stuhl hin und her und zwinkert Mara quer durchs Zimmer zu.

«Allez-y, formez des groupes», versuche ich es nochmals und zeichne dazu vier Strichmännchen an die Wandtafel, um das Ganze zu verdeutlichen.

Dieses Mal scheine ich immerhin einige erreicht zu haben. Gemächlich setzt sich ein Grossteil der Jugendlichen in Bewegung, unterstützt von viel Stuhlgequietsche und einigen Etuis, die im Gewimmel auf den Boden fallen. Endlich haben alle ein Plätzchen gefunden und es kehrt wieder so was Ähnliches wie Ruhe ein.

«Cherchez une situation en famille où il faut trouver une solution. Peut-être que vous voulez sortir en boîte et votre père dit non.»

Ich schaue hoffnungsvoll in die Klasse. Meistens versteht die Gruppe mit Farida am schnellsten, was ich von ihnen will und die anderen Gruppen machen dann einfach mehr oder weniger das Gleiche. Felix streckt auf.

«Sie!»
«Felix?»
«Sie, Frau Partelli, kann ich aufs WC?»
«Jetzt war doch erst grad Pause. Macht jetzt euren Französischdialog».
«Sie ok, ich kann warten, ist nicht so dringend.»

Ich nähere mich Mara, da ihre Gruppe noch kein Thema gefunden hat und stattdessen über den letzten Auftritt von Knackeboul auf Watson diskutiert, natürlich auf Deutsch. Felix blickt mich  an.
«Sie, ich habe Bauchweh».

Nach der ersten Störung nicht aufzugeben und noch einen draufzusetzen, ist Felix üblicher Weg, mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich versuche, seine weinerliche Stimme zu ignorieren und fixiere Mara, um sie zurück zur Diskussion zu bringen.

«Sie, ich muss jetzt wirklich aufs WC.»
«Jetzt hör doch auf zu nerven! Kann deine Altweiberblase nicht einmal warten und…»
«Eh Mann, Weiberblase können Sie nicht zu mir sagen, das ist sexistisch!»
«Felix, sei ruhig!»
«Nein, Sie! Wir haben Redefreiheit in der Schweiz, das haben wir gestern im Geschichtsunterricht bei Herrn Kuster besprochen.»
«Felix!»
«Sie können auch nichts als hysterisch rumzuschreien, sonst haben Sie gar keine Mittel gegen uns!»
«Felix, du bist jetzt ruhig oder du fliegst!»
«Ich habe aber keine Flügel.»
«Felix, es reicht.»
«Aber Sie …»
«Ruhe!!!».

Dieses Mal ist meine Stimme so laut, dass alle Schülerinnen und Schüler verstummen. Elsa und Farida ducken sich hinter ihre Französischbücher und Laurin, der bei Konflikten immer Panik bekommt, läuft langsam rot an.

«Was fällt euch eigentlich ein, mich ständig wegen jedem Pipifatz zu unterbrechen. Ich versuche euch beizubringen, wie ihr euch auf französisch unterhalten könnt und ihr stellt euch an wie der Esel am Berg!», entfährt es mir.

Für einen Moment ist es ruhig im Schulzimmer, man hört nur noch den Sekundenzeiger von der Migrosuhr oberhalb der Wandtafel von einem Strich zum nächsten springen. Ohne Vorwarnung und mitten in die bedrückende Stille hinein fällt Felix mit seinem Stuhl nach hinten auf den Boden. Ich überrasche mich und alle anderen damit, dass ich nicht erneut zu schimpfen beginne, sondern  in ein heftiges Lachen ausbreche. Zuerst bin ich die einzige, aber nach einigen Sekunden biegt sich die ganze Klasse und lacht Tränen.

«Vielleicht sollten wir doch lieber nochmals die Regeln des Passé Composé anschauen, das scheint mir heute erfolgsversprechender, als zu diskutieren», sage ich und wende mich entschlossen der Wandtafel zu.

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