«Anja. Du bist doch eine Frau».
Verdattert schaue ich den neuen Kollegen an. Bisher habe ich noch kaum mit Marco zu tun
gehabt, da wir nicht an den gleichen Klassen unterrichten und er in den Pausen meistens
irgendwo untertaucht, statt mit mir auf dem Pausenplatz nach Plan Aufsicht zu machen. Will
er mich jetzt anmachen und mit mir vor allen flirten oder ist das einfach seine südländische
Art eines kollegialen Geplänkels?

«Ja, das bin ich…» erwidere ich deshalb ziemlich zurückhaltend.

«Hast du das gelesen in den Brunnackerinfos von Sonja heute Morgen» fährt er fort und fixiert mich dabei mit weit aufgerissenen Augen.

Eine Anmache scheint das eher nicht zu sein, dafür sieht er viel zu geschockt aus. Aber worauf will er hinaus? Sonjas Infobriefe sind notorisch detailliert und ziehen sich oft über mehrere Seiten hin, weshalb ich aufgehört habe, davon mehr als die Überschriften zu lesen, dafür ist mir meine unterrichtsfreie Zeit zu schade.

«Sie will Gemischte einführen» stösst Marco mit gequälter Stimme raus. «Für alle, also für die Lehrer und die Schüler».

«Du meinst für die Lehrer:innen und Schüler:innen» antworte ich und betone dabei achtsam die kleine Pause, auf die es bei den neuen Genderformen ankommt, damit alle genannt werden; anders als beim generischen Maskulin, mit dem sich bisher über 50% aller Beteiligten einfach mitgemeint fühlen mussten ohne dass sich jemand daran gestört hat.

«Ja, für die Männer und die Frauen», stöhnt Marco. «Alle zusammen, in einem Bagno».

«Ah die genderneutralen WCs, die überall eingeführt werden sollen, meinst du» antworte ich überrascht. «Was ist denn das Problem damit?»

«Die sind für alle, in einem Raum» wiederholt Marco.

«Ja, das stimmt» antworte ich weiterhin verwirrt. «Ich habe aber gelesen, dass dort jeweils mehrere Kabinen reinkommen sollen statt offenen Pissoirs wie bisher. Falls du dir Sorgen machst, dass dich jemand beobachten könnte».

Marco schaut mich mit einem verzweifelten Blick an und schüttelt den Kopf.

«Weisst du, Anja, ich bin ja noch nicht so lange in der Schweiz zurück, ich habe bis vor kurzem in Lecce unterrichtet. Ich habe zwar hier meine Ausbildung gemacht, aber dann bin ich zu meiner Nonna gezogen und habe dort gearbeitet und mich daneben um sie und meinen Nonno gekümmert. Adesso ist der Nonno gestorben und meine Nonna ist ins Altersheim gekommen. In Italien waren in den letzten zwei Jahren andere Themen als Genderfragen wichtig, da ging es erstmal ums Überleben. In der Schweiz seid ihr alle so kompliziert. Wenn ich unterrichte, muss ich mir bei jedem Satz Mühe geben, dass ich alle erwähne. Die Mädchen, die Jungs, die Frauen, die Männer, das ist so anstrengend»

«Du darfst nicht so binär denken, Marco», erwidere ich automatisch belehrend. «In der heutigen Zeit ist es wichtig, dass wirklich alle einbezogen werden, auch diejenigen, die sich keiner Kategorie zuordnen lassen wollen»

«Siehst du, ich mache alles falsch, obwohl ich es wirklich die ganze Zeit versuche, jede Stunde, in jedem Text, den ich schreibe und in jedem Fach» jammert Marco und fährt ohne Unterbruch fort: «Und nun will uns Sonja das auch noch wegnehmen. Bisher konnte ich wenigstens in den Pausen ein bisschen abschalten, mich in Ruhe hinsetzen, nachdenken und verdauen. Es hat mich nicht gestört, dass da hie und da auch noch Steve oder Hannes reinkamen und lautstark durch die Kabinenwand die Eishockeyresultate vom Vorabend diskutierten. Einzig wenn Bernie grad seine Biotta-Saftwoche machte, das war schon etwas heftig…»

Marco sieht mich an und bevor ich etwas sagen kann, setzt er erneut an: «Madonna, wollt ihr mir auch noch den letzten Rückzugsort wegnehmen. Frauen und Männer im gleichen WC, da kann man sich doch nicht mehr gehen lassen, oder wie siehst du das?»

Artikel herunterladen Übersicht Kolumnen