Da sitzen sie wieder: 23 Erstklässler blicken mich mit erwartungsvollen Gesichtern an, manche betont cool, andere verunsichert oder gar überfordert. Zuvor war der offizielle Empfang aller Erstklässler durch Sonja, unsere Schulleiterin. Unter uns, ich finde, sie dürfte denen ruhig mehr einheizen und sie vor der Härte der Oberstufe warnen. Sie klingt immer so wohlwollend, so positiv. Ginge es nach ihr, würde unser Schulhaus schon nach der ersten Woche vor lauter Lernbegeisterung und gegenseitiger Rücksichtnahme dem siebten Bildungshimmel entgegenschweben. Ich sage immer: Lieber vom ersten Tag an die Zügel anspannen: So verschafft man sich Respekt. Lockerlassen kann man später immer noch. Apropos locker: Der Hannes Döbeli ist natürlich prompt zu spät zur Begrüssung gekommen – so peinlich! War wahrscheinlich wieder bis zum letzten Moment im Centovalli. Hat der sich überhaupt seriös auf die Schule vorbereitet?

Ich gebe nun schon seit bald 20 Jahren Schule und doch bin ich immer wieder erstaunt, wie unvollkommen die eintretenden Oberstufenschüler sind. Ich gestatte mir eine ketzerische Frage: Was lernen die eigentlich in der Primarschule? Also ich möchte kurz festhalten, was sie NICHT lernen: Ruhig in der Bank zu sitzen, zuhören, wenn der Lehrer spricht, Französischvokabeln, geschweige denn Verben konjugieren, sich ordentlich anzuziehen, Blätter mit dem Namen zu versehen und diesen an eine Stelle auf dem Blatt zu setzen, wo eine normale Lehrperson auch danach suchen würde. Eine schwierige Aufgabe wartet da auf uns Sek-A-Lehrer/-innen.

Nun stehen sie mir wieder bevor, die Wochen, in denen in jeder Stunde mehr erklärt werden muss, als effektive Lernzeit zur Verfügung steht. Es ist ja auch wichtig, erste Pflöcke einzuschlagen, und in der gegenwärtigen Unbeholfenheit will alles aufs Genaueste erklärt sein. Erlaubt man sich einmal einen kleinen Patzer, schon schnellen mindestens fünfzehn verschüchterte Hände nach oben. Muss das Blatt zwischen den Löchern oder oben links angeschrieben werden? Darf man mit Bleistift schreiben? Darf man mit Tintenkiller gelöschte Passagen auch noch mit Tipp-Ex zensieren? Wie viele Karos sind zwischen Titel und Text frei zu lassen? Und nach drei Schüler/-innen beginnt das Fragen- karussell wieder von vorne, weil sie einander ja nicht zuhören.

Wenn man dadurch nur mit dem Stoff nicht dermassen in Verzug käme. Während der Döbeli von seinen Schüler/-innen im Schulgarten Salat für seinen Eigenbedarf anbauen lässt, ackere ich mich durch die Unités von Envol. Während Schmalz mit seinen B-Klassen im Englisch ein bisschen Gangsta-Rap hört, um die Schülerherzen fürs Englisch zu öffnen (wie er so schön sagt), brüten wir darüber, ob sich Gangsta deklinieren lässt.

Was muss man nicht alles durchnehmen, um die Schüler/-innen für die Gymiprüfungen fit zu trimmen. Die Kollegen haben doch keine Ahnung mit ihrem Wohlfühlprogramm!

Apropos Wohlfühlprogramm: Nach vier Wochen stellte sich der Steve Hilfiger, unser Schulsozialarbeiter, der Klasse vor. Eine ganze Lektion braucht der dafür – ja wie soll ich denn da stofflich vorankommen, wenn der mir so viel Zeit vom Unterricht stiehlt? Wenn es wenigstens noch etwas bringen würde, aber die Schüler nehmen ihn ja eh nicht richtig ernst. Macht da irgendwelche komische Spiele mit Seilen, an denen sie ziehen müssen, um Gemeinschaft und Teamgeist zu erleben, na ja. Nach seiner Lektion herrscht meistens Chaos im Klassenzimmer und ich kann dann wieder schauen, dass Ruhe und Ordnung einkehrt.

Aber eins muss ich Döbeli & Co. lassen. Sucht man in der Zehnuhrpause das Gespräch zu ihnen, beruhigt das jegliche Versagensängste gegenüber der Stofffülle. Während ich vor den Herbstferien schon bald mit der Unité 3 fertig bin, dümpelt der Hannes noch immer in Unité 1 rum. Hoffentlich kommt er nicht auf die Idee, einen seiner Schüler in meine Klasse aufzustufen…

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