Meine neuen Erstklässler scheinen nicht zu wissen, dass die Maske über der Nase getragen wird und benützen sie deshalb oft als Abflussrampe für den Inhalt des Riechorgans, wohl weil die Pause Anfangs Oktober bereits ziemlich feuchtkalt ausfällt. Die zündende Idee einer Nasenklammer konnte ich leider nicht weiterverfolgen, da sich diese als störend für die Aussprache des Französischen auswirkte. Auf die Aussprache lege ich im ersten Semester grossen Wert. Das Französische kann auch ohne Nase ausgesprochen werden, doch dann hat man den südfranzösischen Akzent, der einen doch als Cretin und nicht als weltgewandten Pariser outet. Natürlich gebe ich mir neben der Aussprache dieses Jahr auch vermehrt Mühe, dass die Schülerinnen und Schüler bei mir die essenziellen Grundlagen der französischen Grammatik verinnerlichen können. Leider stelle ich dann frustriert fest, dass ihnen nicht einmal das Passé Composé von avoir in der Primarschule eingepaukt wurde. Also beginne ich wieder bei Null! Was für eine Verschwendung! Ich merke, die nicht sehr kleidsame Stirnfalte, die seit einiger Zeit zwischen meinen Augenbrauen aufsteigt, habe ich der fehlenden Ernsthaftigkeit der Lernenden zu verdanken. Seit gut fünf Jahren antworte ich auf die Frage nach meinem Alter mit 39, aber langsam klaffen Wunsch und Realität zu sehr auseinander. Die grauen Haare müssen entschiedener bekämpft werden und die Sorgenfalten wechseln langsam von der metaphorischen in die real-dauerhafte Dimension. Doch nun ist Anfang Oktober, die Herbstferien in Reichweite und die Stirnfalte und die grauen Haare müssen bekämpft werden.

Mit der gleichen Entschlossenheit, mit der ich jeweils die renitenten nicht avoir Lernenden auf den einzig richtigen Weg zu bringen versuche, mache ich mich auf die Suche nach einer Wellnessoase, bei der ich all den Stress der vergangenen Wochen hinter mir lassen könnte und nach der Rückkehr, um eine Dekade jünger aussehen würde. Ich lese von einem Beautyresort auf den ostfriesischen Inseln und über die verjüngende Wirkung des Wattwanderns im Schlick des Gezeitentiefs und die auffüllende, verjüngende Wirkung für die Stirnfalten. Zudem soll mit Massage, Diät und einem individuellen Fitnessprogramm die Figur wieder auf Vordermann gebracht werden. Während ich mir angenehm seufzend eine Lindorkugel in den Mund schiebe, buche ich.

Am Montag der ersten Ferienwoche lehne ich an der Reling der Fähre zur Beautyinsel. Der Wind zerzaust das Haar und spielt mit einigen vorwitzigen Locken. Die Luft riecht nach Fisch und die Menschen schimpfen auf Plattdeutsch. Als ich kurz den Kopf gegen den Wind drehe, erblicke ich ihn. Jean Pierre aus längst vergangenen Zeiten. Damals in Marseille 2008 auf der Quaimauer vor dem Museum haben wir uns tief in die Augen geschaut und er hat geflüstert: „Je t’aime!“ und ich habe zurückgestöhnt „moi non plus!“ Und dann hat er mich auf den Bahnhof begleitet und ich bestieg den TGV nach Zürich. Leider liegt mein Liebesleben seither brach. Jean Pierre hat mich gesehen, er kommt auf mich zu. In der Cafeteria der Uni goss er den Kaffee über meinen Rock, so fing alles an. Kurz danach zog ich zu ihm in die Altstadt. Es war Frühling, der Jasmin verbreitete einen betörenden Duft in den schmalen Gassen. Wir lebten von Liebe, Bouillabaisse und fruchtigem Wein. Die Erinnerung lässt mich sanft erröten. Ich war im Paradies. Nun steht er einen Schritt vor mir, mein Atem stockt, die Hände werden feucht. Er ist älter geworden, doch das Grau der Haare betont die strahlenden Augen. Seine Hände sind feingliedrig, doch der Bauch steht unübersehbar unter der Jacke hervor. Und dann liegen wir uns in den Armen, 13 Jahre sind weggefegt.

Zwei Wochen später im Lehrerzimmer beneiden mich alle um mein frisches und gesundes Aussehen. Die Falte ist weg, die Haare frisch getönt und pfiffig geschnitten. Und ich bin verliebt! Ob das dem Passé Composé gut tut?

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