«Liebe Sonja. Ich hoffe, dass ihr alle das lange Pfingstwochenende genossen habt und jetzt mit viel Elan in die letzten Wochen des Schuljahrs eingetaucht seid. Bitte vergiss nicht, alle Lehrpersonen darauf hinzuweisen, dass sie bis Anfang Juli ihre gegenseitigen Unterrichtsbesuche inklusive sorgfältiger Rückmeldung gemacht und dir das grüne Blatt dazu unterschrieben zurückgegeben haben müssen. Liebe Grüsse, Ruth Varkidakis, Präsidentin der Weiterbildungskommission der Schulpflege.»

Seufzend klicke ich die 26. mit «dringend» markierte Mail des heutigen Morgens weg und überlege mir, wie ich diese gute Nachricht in der Zehnuhrpause verbreiten soll. Ich kann mir die Begeisterungsstürme im Kollegium schon vorstellen. Seitdem Ruth vor zwei Jahren bei einer Veranstaltung von den evidenzbasierten Methoden der Unterrichtsdiagnostik und -entwicklung (kurz EMU) nach Professor Andreas Helmke gehört hat, ist sie überzeugt, dass sich damit das Niveau der Schule in neue Höhen aufschwingen würde. – Nur schade, dass dieser Vogel Plattfüsse hat und zu gross zum Fliegen ist.

Bruno Murz, unser Experte von der PH Thurgau, stimmte uns zwar mit salbungsvollen Worten auf die neue Herausforderung ein. Wir übten das Erteilen eines wohlwollenden Feedbacks mit WIN-Methode und Johari-Fenster. Bei dieser Gelegenheit gerieten sich Patrizia und Bernie dermassen in die Haare, dass ich einen externen Mediator beiziehen musste. Dieser Prozess ist noch am «Laufen», wobei sich diese Wortwahl weniger auf die erzielten Fortschritte bezieht als auf die laufende Rechnung des Mediators. Das Fass zum Überlaufen brachte dann die Einführung des EMU-Fragebogens, welcher von den Lehrpersonen, den Hospitanten und den Jugendlichen nach jeder besuchten Stunde ausgefüllt werden sollte:

Hannes Döbeli merkte im Namen aller Sek-B-Lehrer an, dass seine Schüler nicht in der Lage seien, die komplexen Formulierungen der Fragen zu verstehen und forderte einfachere Kriterien. Weiter habe er keine Lust, von jedem dahergelaufenen  PH-Absolventenschnösel zu hören, dass sein Unterricht nicht den neuesten Bildungsstandards entspreche. Bernie Schmalz verglich den Fragebogen mit Recherchemethoden der Stasi vor dem Mauerfall und betonte, dass er sich weigern werde, die Umfrage durchzuführen, wenn er die Resultate seiner 23 Fragebogen in den ungenügend datengesicherten Schulcomputer eingeben müsse. Nach der ersten Hospitationsrunde war die Stimmung im Lehrerzimmer für eine Weile sehr angespannt. Patrizia gestand mir bei einem Kaffee in der Pause weinend, dass sie nicht mehr weiterwisse, da fast alle ihrer Schüler «trifft nicht zu» bei

«Ich bin in dieser Unterrichtsstunde für eigene Beiträge gelobt worden» angekreuzt hätten, obwohl sie sich solche Mühe gegeben hätte, auch die kleinsten Fortschritte positiv zurückzumelden. Daneben erzählte sie mir im Vertrauen, dass die Stunde, die sie bei Anja Schulz besucht hatte, äusserst merkwürdig verlaufen sei. Sie glaube, dass Anja den Draht zu ihren Schülern noch nicht gefunden habe, Eldin und Moritz hätten sich dauernd auf Schweizerdeutsch über sie lustig gemacht. Zudem habe Anja überhaupt nicht auf die Unruhe reagiert. Nach einigen Wochen hat sich das Ganze dann im Sand verlaufen und ich musste meinen Kaffee nicht mehr alleine im Schulleiterbüro trinken. Allerdings läutet die Mail von Ruth das definitive Ende meiner Vogel-Strauss-Taktik ein. Die zweite Runde steht bevor: Ich klemme mir die Liste mit den zugelosten Tandems unter den Arm, hole nochmals tief Luft und mache mich auf den Weg ins Lehrerzimmer. Döbeli und Anja. Da ist der nächste Zoff  schon vorprogrammiert.

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