«Lieber Hannes. 36 Jahre warst du dem Brunnacker eng verbunden, hast dein Herzblut für die Schule eingesetzt und mit uns alle Neuerungen elegant gemeistert.» «Spinnst du, du kannst doch nicht derart lügen, das geht nicht mal in einer Verabschiedungsrede» kichert Patrizia und schaut Anja herausfordernd an. «Also ich habe den Döbeli einzig beim Eschenberglauf Blut schwitzen sehen und auch da hat er es jedes Jahr nur bis zum Start geschafft.

«Hör auf zu lachen! Du bist ja nur happy, dass ich die Arschkarte gezogen habe und die Abschlussrede für ihn schreiben muss» seufzt Anja und wühlt sich mit verzweifeltem Blick durch ihre bereits in alle Richtung abstehenden Haare.

«Du hättest halt besser schätzen müssen. War ja klar, dass die Coronazahlen nicht kleiner werden» neckt Patrizia die optimistische Questlerin und nimmt sich eine weitere Praline aus der Schachtel im Lehrerzimmer.

«Ich find’s so ungerecht. Ich kenn ihn kaum und jetzt muss ich über die Klinge springen» jammert Anja weiter. «Und die Zahlen sahen doch wirklich gut aus. Ich weiss nicht, wieso das mit dem Maskentragen in den Gängen nicht ausgereicht hat.»

«Du tust mir echt leid» beschwichtigt Patrizia die aufgelöste Kollegin. «Wie wär’s, wenn wir einfach mal gerade herausschreiben, was wir in Wahrheit sagen würden und dann streichen wir nachher einfach die unschönen Stellen raus?»

«Hannes» beginnt Anja ein zweites Mal und schaut  Patrizia  herausfordernd an. «Lieber Hannes finde ich etwas zu freundlich».

«Hannes» wiederholt Patrizia bestätigend «36 Jahren hast du im Brunnacker den Fortschritt infrage gestellt. Was war das jedes Mal für eine Herausforderung, mit dir in einer Gruppe zur Schulentwicklung zusammenzuarbeiten. Diese besondere Mischung aus Verweigerung, Desinteresse und Vergesslichkeit haben die Weiterbildungen mit dir auf ewig in meinem  Gedächtnis eingebrannt.

«Wir möchten dir für die veralteten Geografiekopiervorlagen zur Gliederung Europas danken. Es war immer wieder toll, den Schülerinnen und Schülern zu erklären, was genau mit Jugoslawien und der Tschechoslowakei gemeint ist, und wir finden es bewundernswert mit welcher Ruhe du uns erklärt hast, dass die meisten Jugendlichen diese feinen Details eh nicht bemerken würden» unterbricht sie Anja lachend.

«Andererseits warst du immer bereit, dich für deine Schäfchen einzusetzen. Du hast sie auf jede Art und Weise in der Berufswahl unterstützt. Die Lehrstellensuche war dir extrem wichtig. Notfalls hast du bei Referenzauskünften auch mal das Blaue vom Himmel erfunden, nur damit deine Schülerinnen und Schüler im Bewerbungsprozess nicht untergingen», erinnert Patrizia die jüngere Kollegin an Döbelis Stärken.

«Du hast schon recht», nickt Anja und fährt mit der Rede fort.

«Hannes, in deiner Lehrerbrust schlagen zwei extrem unterschiedliche Herzkammern. Du hast dich in keine Schachtel pressen lassen und hast alle Regeln und Abläufe, mit denen uns Sonja streamlinen wollte, bekämpft. Aber wenn man mal wirklich im Dreck steckte, dann warst du als Erster zur Stelle und hast geholfen. «Ja, weisst du noch, wie er mich beim Teambildungsausflug aus der Wand gerettet hat, als ich eine Höhenangstpanikattacke hatte…» beginnt Patrizia und bebt vor unterdrücktem Lachen.

Unbemerkt öffnet sich die Tür des Lehrerzimmers.

«Ich hoffe, ihr habt noch nicht so viel geschrieben» versucht Sonja die Aufmerksamkeit der beiden zu erhaschen.

«Die Verabschiedung von Hannes ist endgültig abgesagt worden. Ich habe grad mit ihm telefoniert» setzt Sonja ein zweites Mal an. «Er hat mir mitgeteilt, dass der Empfang auf Bora Bora sehr unstabil sei und er eh keine virtuelle Rede mit diesem neumödischen Firlefanz wolle. Wir werden ihm einfach einen Geschenkgutschein und eine Flasche Brunnacker Grappa schicken. Mehr liegt in der aktuellen Weltlage leider nicht drin.»

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