Müde klappe ich den Laptop auf und verbinde mich. Die ersten Minuten vor der Schulkonferenz sind immer besonders interessant. Einige haben schnell vergessen, dass ihre Kamera nicht nur ein virtueller Spiegel ist, sondern auch das ganze Kollegium ihnen beim Entfernen von Speiseresten zuschauen kann. Andere vollführen seltsame Verrenkungen ihrer Gesichtsmuskeln, bis Bild und Ton korrekt eingestellt sind. So beginnen bei uns Sitzungen, seit Sonja beschlossen hat, diese per Videokonferenz durchzuführen. Die Teilzeitkräfte könnten so langfristig besser eingebunden werden, hiess es. Der Anfang war schwer, aber langsam sehe ich die Vorteile, zum Beispiel, dass die Konferenz nun geruchsneutral ist: Weder Fischduft aus der Mikrowelle, Schweiss eines Mitglieds der Velofraktion noch an angegraute Nespressokapseln erinnernder Mundgeruch dringt in meine Nase. Ausserdem gibt der Videochat interessante Einblicke in die Wohnungen der Kollegen.

«…darauf achten müssen, vermehrt zu individualisieren – ja gar das Stundenplandenken zu überwinden, um die Rückstände der einzelnen Lernenden aufzufangen. Mein Aufruf: «Helft euch bis zu den Ferien gegenseitig mit Stunden aus.» Mit diesen Worten eröffnet Sonja die Diskussion zum ersten Traktandum und die Büchse der Pandora.

«Die Hallensituation während des Umbaus ist prekär, die Rückstände sind riesig», meint unser Sportlehrer, «wenn schönes Wetter ist, müssten wir mindestens in Halbtagesblöcken arbeiten können.» Das geht Gabriela zu weit. «Soll SRF-Meteo unseren Unterricht bestimmen? Ich bin wegen der letzten Wochen total im Rückstand. Unsere Pullover werden nicht bis zu den Ferien fertig. Die teuren Stoffe können wir wegschmeissen.» Damit ruft sie Bernie auf den Plan.

«Bei der aktuellen Oversize-Mode kann man aus einem zugeschnittenen Pullover immer noch jedes andere Kleidungsstück herstellen. Du kannst das Zeug also nächstes Jahr nochmals brauchen.» Edith überbrückt das betretene Schweigen mit einem Verweis auf den Ernst der Lage. «Ich habe nachgezählt, dass der Freitag bis zu den Ferien sechsmal ausfällt, zu einem Drittel wegen Klassenaktivitäten! Die WAH geht wieder einmal vergessen! Wollt ihr verantworten, dass ein ganzer Jahrgang die Wirtschaft nicht versteht, Schulden macht und nur noch Junkfood isst?»

Damit ist der Verlauf der Diskussion schon vorgezeichnet, ohne dass ich überhaupt meinen Rückstand in der Grammatik erwähnt habe. Oben links auf dem Bild- schirm sehe ich Anja, die sich anschickt, etwas zu sagen. «Wie schon Moltke und Brackwasser in ihrem Essay dargelegt haben, ist Individualität…».

«Moltke, ist das der Teutone aus dem Zweiten Weltkrieg?», fragt Bernie dazwischen. Aus dem Ersten, denke ich, aber der hat garantiert nicht zur Individualität geforscht. Doch das spielt keine Rolle mehr. Die Diskussion gleitet in andere Sphären ab, obwohl sie wahrscheinlich noch gar nie dort war, wo Sonja sie eigentlich hätte haben wollen. Bernie schickt mir über die Chat-Funktion ein schelmisches Emoji und erwartet, dass ich ihm zum Ausbremsen von Anjas PH-Reminiszenz gratuliere.

Inzwischen haben Edith und Bruno ihre eigene Diskussion begonnen, was nicht ganz unbemerkt bleibt: Erstens, weil sie gleich laut ist wie das Hauptgespräch und zweitens, weil das Programm die beiden sofort prominent ins Bild rückt. Zur allgemeinen Entzückung werden jetzt auch noch alle Voten zerhackt und mit einem leichten Echo wiedergegeben. Meine Kopfhaut zieht sich zusammen und ich verspüre das dringende Bedürfnis nach ein paar Sekunden Ruhe:
«Wer hält eigentlich die Rede zum Abschied von Hannes Döbeli? Das Abschlussessen wurde zwar verschoben, aber wir sollten uns trotzdem Gedanken dazu machen», sage ich und schon senken sich die Blicke aller sichtbaren Teammitglieder. Es kehrt augenblicklich Ruhe ein.

In mir breitet sich Zufriedenheit aus. Egal wie tief greifend die Neuerungen sind, unser Team bleibt stets das alte.

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