Der Weg an die Zürcher Gymnasien ist steinig. Damit die Schüler/-innen aus dem Kanton Zürich ins Gymi können, müssen sie eine Prüfung bestehen, deren Zweck eine politische Vorgabe ist.
Als ich nach den Herbstferien Aufsatznoten verteilte, herrschte betretenes Schweigen. Der Durchschnitt war eine Fünf, ein ausgezeichneter Text war mit 5.7 bewertet, alle anderen Noten waren tiefer, aber keine ungenügend.
Die Rückmeldungen der Eltern liessen nicht auf sich warten. Ein Vater fand die Bewertung «im Hinblick auf die Gymiprüfung» «zu streng», eine Mutter wünschte sich ein Elterngespräch, weil ihre Tochter «sehr traurig» über eine 4.5. war. Gliederung, Aufbau, sprachliche Gestaltung? Die Bewertungskriterien der Schülertexte oder die Texte selbst interessierten kaum.
Jede/r A-Schülerin darf sich an die Aufnahmeprüfung anmelden. Niemand fragte mich um meine Meinung, und nur einige Schüler/innen teilten mir ihren Entscheid mit. Viele gaben die Anmeldeformulare für den Gymivorbereitungskurs diskret im Teamzimmer ab und waren danach sehr, sehr fleissig. Der Notendruck war deutlich. Noten ab einer 5.5. waren in Ordnung.
Sinn und Unsinn von Empfehlungen
Eine B-Schüler/in bat mich um eine Empfehlung für die Zulassung an die Zentrale Aufnahmeprüfung. Ich schätzte ihre Chancen als nicht allzu gross ein. Ich wog ab. Was ist für einen Teenager schwerer zu ertragen – eine Klassenlehrperson, die ihre Schülerin daran hindert, ihren ersten eigenen Karriere-Entscheid zu treffen oder ein negativer Bescheid einer letztendlich fremden Institution?
Der Aufwand bei einer Nicht-Empfehlung ist hoch. In diesem Fall können die Eltern ein Gespräch mit allen Beteiligten sowie der Schulleitung verlangen. Bleibt die Schule bei ihrer Haltung, können die Eltern einen weiteren anfechtbaren Entscheid der Schulpflege beantragen. Welche Lehrperson tut sich so etwas an, und wenn ja, aus welchem Grund? Die Konsequenzen einer Nicht-Empfehlung wären ja ausserdem das Aus für das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrperson und Schüler/in. Ich unterschrieb, die Schüler/in fiel durch und nahm es gelassen.
Das neue Aufnahmeverfahren
Der Durchschnitt der Vornoten und der Prüfungsnote waren neu eine 4.75. Mit einer Vornote von einer 5.5 genügt eine 4.0 als Gesamt-Prüfungsnote für die Zulassung ans Gymnasium. Eine 4.0, sagten sich viele Schüler/innen, erreiche ich sowieso und meldeten sich für die Prüfung an.
Die frühesten Indikatoren eines möglichen Fails waren die Test-Simulationen, die normalerweise kurz vor der Prüfung durchgeführt werden. Einem Schüler wurde erst in diesem Moment bewusst, dass er bei dieser Prüfung wahrscheinlich durchfallen würde. Es blieb ihm keine Zeit, sich wieder zu fangen. Er bestand nicht.
Was bringt die Quote?
Die Zahl der Schüler/innen die im Kanton Zürich die Gymi-Prüfung bestehen, ist Jahr für Jahr gleich gross. Die Verantwortlichen sagen: Bei jährlich gleichbleibendem Schwierigkeitsgrad der Prüfung ist aufgrund der hohen Anzahl Geprüften aus statistischen Gründen zu erwarten, dass der Anteil an Schülerinnen und Schülern, welche die Prüfung bestehen, stabil bleibt. Es sei nicht anzunehmen, dass ein ganzer Jahrgang plötzlich leistungsschwächer oder -stärker ist als der Jahrgang zuvor. Das ist sicher richtig, aber: Die Skala wird jeweils auch angepasst, damit die Quote stimmt. Das beschränkte Raumangebot oder die gesprochenen Pensen der Schulen ist Jahr für Jahr ausschlaggebend für die Zahl der Zürcher Gymnasiast/innen.
Sind Zürcher Gymnasiast/innen im Vergleich leistungsfähiger?
Die Gymiprüfung ist eine politische Vorgabe im Kanton Zürich. Die Prüfung soll eine lange Leidenszeit am Gymi verhindern, argumentieren die Verantwortlichen. Wahr ist auch, dass sich viele Schüler/-innen in privaten Lerninstituten auf die Prüfung vor. Die wiederum sind wohlhabenden Familien vorbehalten.
Im Nachbarkanton Aargau müssen die Schüler/-innen am Ende des neunten Schuljahrs einen Notendurchschnitt von mindestens 4,7 erreichen, um definitiv an eine Kantonsschule aufgenommen zu werden. Im Kanton Tessin ist die Quote unter anderem höher, weil das Lehrstellenangebot tiefer ist.
Das Argument der Zürcher Verantwortlichen, dass die Kompetenz der Schüler/innen in Kantonen ohne Aufnahmeprüfung im Lesen und Mathematik tiefer sei als diejenige ihrer Zürcher Altersgenossen mit bestandener Prüfung, wundert mich nicht. Der monatelange Drill der Vorbereitungszeit nützt sicher etwas, wenn manchmal auch nur kurzfristig.
Paradoxerweise bleibt die Eidgenössische Matura am Ende der Gymizeit doch eine Prüfung, bei der schweizweit derselbe Massstab angelegt wird – für die Zulassung an die Universitäten genügt dann wieder ein Abschluss aus einem beliebigen Kanton.
Nach der Prüfung ist die Luft draussen
Nach der Gymiprüfung veränderte sich das Verhalten in der Klasse. Die erste Frage lautete: Wer hat es geschafft, wer nicht? Wer nicht bestanden hatte, mochte wochenlang nicht darüber reden. Das Klassengefüge geriet etwas aus den Fugen. Während man sich vor der Prüfung noch strahlend viel Glück gewünscht hatte, bekamen innige Freundschaften plötzlich Risse.
Das Lehrerkollegium, befreit vom Druck der Eltern und der vom Leiden Schüler/innen, kehrte zum Tagesgeschäft zurück. Die Notendurchschnitte fielen wieder auf 5, ohne dass sich die Eltern einschalteten. Nach einigen Wochen war klar: Fünf Schüler/innen werden die Klasse verlassen, davon gehen zwei an eine Privatschule. Was aus Sicht der Zürcher Politik der Sinn der Übung ist, habe ich unterdessen verstanden. Was die Gymi-Prüfung den Jugendlichen bringt, ist mir als Aargauerin ein Rätsel.
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